Donnerstag, 16. Mai 2024

Hallo Nemo!

Falls sich einer fragen sollte, welcher der offenen Briefe hier für mich am schwierigsten zu schreiben ist: Dieser hier. Ich ringe immer noch um Worte und hoffe, ich kriege es einigermaßen hin. Denn dieser Brief ist der ambivalenteste von allen, die ich hier zu schreiben gedenke.

Nemo, erst auch nochmal innerhalb des Briefes hier herzlichen Glückwunsch zu Deinem Sieg. Du hast eine 1a Performance abgeliefert und gesungen wie von einem anderen Stern. Der Song war ein wilder Mix aus allen möglichen Stilen und hat Deine persönliche Geschichte erzählt. Daher geht der Sieg auf jeden Fall absolut in Ordnung. Für die Schweiz freut es mich besonders, nicht nur, weil ich es nach Zürich nicht so arg weit hätte, sondern auch, weil Ihr seit 1988 schon viele, viele gute Beiträge abgeliefert habt, die leider ein wenig unter Wert geschlagen wurden. Umso schöner, dass es jetzt geklappt hat.

Noch schöner, dass es eine nonbinäre Person geschafft hat. Das wird vielen, vielen jungen Menschen, die an ihrer geschlechtlichen Identität zweifeln, helfen, ihren Weg zu finden. Daran ändern auch die leider überall aus dem Boden schießenden Hasskommentare in den sozialen Medien nichts. Leider zieht sowas immer die allergrößten Trolle an. Nein, Klaus-Günter, Deine Meinung zu Nemos Non-Binarität ist völlig ohne Belang. Es geht Dich nichts an, behalt es einfach für Dich und nutze deine Zeit zur Abwechslung mal sinnvoll. Nur weil Du ein Problem damit hast, dass andere Leute nicht genauso sind wie Du, kannst Du ruhig mal versuchen, die Welt ein bisschen besser zu machen und Deine wie gesagt absolut irrelevante und niemanden interessierende Meinung für Dich behalten. Die Welt hätte wohl eher ein Problem, wenn alle so wären wie Du.

Aber zurück zu Dir, Nemo. Ich hoffe, dass Du Deinen Weg weitergehst und Dich von den ganzen Hasskommentaren im Netz nicht beirren lässt. Und dass Du nächstes Jahr ein würdiger Teil des Gastgeberteams sein wird.

Allein: Wie wird man eigentlich ein würdiger Gastgeber?

Auf jeden Fall mal: Indem man JEDEN seiner Gäste empfängt wie einen König. Hättest Du dieses Jahr alle Gäste, die auf der Eurovisionsparty hätten sein sollen, empfangen wie einen König? Oder wie eine Königin? Auch wenn sie aus einem Land kommen, mit dessen Politik Du nicht einverstanden bist? Konntest Du das trennen? Es schwirren derzeit jede Menge Dinge diesbezüglich durchs Netz, so richtig weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll. Fest steht allerdings: Du bist auf jeden Fall ziemlich dicke mit einer weiteren nonbinären am ESC 2024 teilgenommen habenden Person, die seit Tagen ungeniert ihren Hass gegen dieses Land und gegen die Teilnehmerin dieses Landes auslebt. Und mit einer anderen bisexuellen Person, für die es traumatisch war, nach "diesem Land" aufzutreten (der Lord Voldemort unter den Ländern, oder was? Da fallen mir aber vorher noch andere Kandidaten ein!). Habt Ihr über das Thema gesprochen? Wie habt Ihr über das Thema gesprochen? Gab es irgendjemanden unter Euch, der vielleicht dann doch mal einen Funken Mitgefühl für Eden Golan entwickelt hat? Es wäre schön, wenn das so wäre. Und es hätte Größe, wenn Du dazu in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft mal Stellung beziehen würdest.

Viele von Euch Teilnehmer*innen in diesem Jahr haben einen queeren Hintergrund und sind deshalb bestens vertraut mit den Anfeindungen, die damit einhergehen. Ich habe selbst jetzt keinen, aber ich bewege mich seit über 20 Jahren in ESC-Kreisen und kriege da schon so einiges mit. Bis es keine Rolle mehr spielt, wen man liebt oder welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt, wird es sicher noch dauern. Wir brauchen hier viel mehr Akzeptanz (und nicht nur Toleranz, siehe dazu auch meinen Artikel von vor zehn Jahren zum Thema), so dass es schlussendlich bestenfalls eine Randnotiz ist, ob jemand hetero, homo, bi, transsexuell ist oder Männlein, Weiblein, beides, gar nix. Es sollte einfach keine Rolle spielen, Mensch ist Mensch, fertig, aus. Genauso wenig sollte es eine Rolle spielen, aus welchem Land jemand kommt und ob man das Land mag oder nicht, weil es diesen oder jenen Dreck am Stecken hat. Die von mir gewünschte Akzeptanz gilt nämlich nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Leuten, sondern für ALLE. Egal wo sie herkommen, egal wie sie aussehen, egal wen sie lieben, egal welches Geschlecht, egal, egal, egal. 

Wenn sich die Person als Idiot erweist, darf man ihr das gern sagen. Sie ist aber nicht von vornherein eine Persona non Grata, weil sie eine bestimmte Herkunft / Sexualität /Geschlechteridentität / Hautfarbe hat. Akzeptanz ist keine Einbahnstraße! 

Ich hoffe, nächstes Jahr bei Euch werden wir in Sachen Akzeptanz für ALLE schon ein gutes Stück weiter sein. Wenn uns dieses Jahr was lehren kann, dann das. Wenn wir selbst Akzeptanz wollen, müssen wir unsere Gegenüber ebenfalls akzeptieren. In diesem Sinne hoffe ich, dass es nächstes Jahr für ALLE Teilnehmer*innen heißt: Eurovisionland zu Gast bei Freunden!


PS: Schönen Gruß ans Schlägerbambie: Demjenigen, der die Einladung verteilt, das Recht abzusprechen, solches zu tun, und ihm dann noch verbal auf den gedeckten Kaffeetisch zu kacken ist auch irgendwie nicht akzeptant. Und die Nummer mit der Dornenkrone auf Deinem Haupt (WTF?!) war zum Fremdschämen. Was hast Du eigentlich mit dem Ding gemacht?

5 Kommentare:

Zwelfbungt - Lucas hat gesagt…

Moment, nah an Zürich? Bist du etwa auch aus BaWü? Wenn ja: Grüße aus Marbach am Neckar! Bezüglich der Host-City 2025 würde ich mich eher auf Basel freuen, da könnte man auch nach Lörrach ausweichen, was die Hotels und vor allem die Preise angeht. Malmö ist mit Kopenhagen jetzt auch schon praktisch gewesen, aber die Preise in Dänemark waren schon teils eine Zumutung. Und die Schweiz ist da noch schlimmer. Wenigstens verfüge ich über ein eSim fähiges Handy und kann meinen Mobilfunk auf deren Netz bei Bedarf umstellen (und dann auch für Deutschland beim ESC 2025 voten, was ich definitiv einmal machen werde, hehe).

Tamara Fabian hat gesagt…

Achtung anschnallen: *Trommelwirbel*

Ich wohne in Stuttgart!

wüster Volker hat gesagt…

Liebe Tami,

ich finde es bewundernswert, wie du nach dieser Sch...woche des ESC offene Briefe schreibst, und das weißt du ja eigentlich auch schon.

Der Brief an Nemo ist besonders gut gelungen - vielen Dank dafür! Du benutzt und benötigst keine Schuldzuweisungen oder Unterstellungen, du kommunizierst klar, dass du vieles nicht weißt, erliegst aber auch nicht der Versuchung große Mutmassungen anzustrengen.

Du stellst Nemo Fragen, von denen ich hoffe, dass diese Nemo auch erreichen und dass Nemo die Fragen - mindestens für sich selbst - beantwortet und darüber nachdenkst.

Vielleicht sollten wir dem schönen Spruch "Love is love" noch den Zusatz hinzufügen: "and human being is human being".

Danke dir für deine (mal wieder) guten und bedächtigen Worte!

wüste GRüße und so

Zwelfbungt - Lucas hat gesagt…

Ach du liebes Bisschen! Ein Eurovisionblog aus Stuttgart! Immer wenn man glaubt, dass es nicht cooler werden kann, wird es doch noch cooler!

Tamara Fabian hat gesagt…

@Lucas: Eigentlich stammt dieser Blog ja aus der Nähe von Graz. Ich bin hier nur die schuftende Angestellte, die obendrein in Stuttgart nur neigschmeckt ist. Ich hoffe, das macht es jetzt nicht weniger cool :)

@Wüstchen: Bear hug. Nicht nur für Deinen Kommentar, sondern auch nochmal für das Telefonat neulich.