Donnerstag, 30. März 2017

"Der Eurovision Song Contest ist unpolitisch!"

Dieses Posting sollte eigentlich schon gegen Ende der letzten Eurovisionssaison kommen, ich habe mich aber dann doch dagegen entschieden. Aus Gründen. Faulheit zum Beispiel. Aber wie wir alle wissen, ist das Thema ja nicht vom Tisch und derzeit sogar in der Mitte des Tisches, aber sowas von! Deshalb nach längerem Hadern auch nochmal meine fünf Cent zum Thema.

Kurz zur Ausgangslage: Bekanntlich hat sich die Ukraine letztes Jahr den Sieg mit einem Song davongetragen, der aufgrund seiner politischen Aussage haarscharf an der Disqualifikation vorbeischrammte. Zu allem Überfluss verwies das Land durch die bessere Jurywertung den hochfavorisierten Televoting-Sieger aus Russland dadurch gar noch auf Platz 3, was dem ohnehin schon zerrütteten Verhältnis der beiden Länder nicht gerade zuträglich war.

Die ESC-Blase fragte sich nun also seit dem 14. Mai 2016, ob und wenn ja wie die Russen in der Ukraine überhaupt antreten. Diese Frage wurde vor zweieinhalb Wochen beantwortet - und mit dieser Antwort gingen die Scherereien dann richtig los.

Russland nominierte nämlich Julia Samoylova, eine an den Rollstuhl gefesselte Sängerin, die, wenn ich meinen einschlägigen Quellen glauben darf, einen Schmachtfetzen vor dem Herrn singen wird. Und singen kann sie wohl sehr gut.

Zunächst erschien es als großartige Idee, ausgerechnet in die Ukraine jemanden zu schicken, der vermutlich einen riesigen Mitleidsbonus bekommen und den auch der härteste Russlandgegner aus diesen Gründen in Kiew nicht ausbuhen wird. ABER, und das ist ein großes Aber: Julia Samoylova trat im Jahre 2015 auf der bekanntlich im Jahr davor von Russland annektierten Krim auf und reiste für diesen Auftritt von Russland aus ein. Dies ist aber in der Ukraine per Gesetz verboten und wird mit mehrjährigem Einreiseverbot geahndet.

Das heißt: Julia Samoylova darf in der Ukraine derzeit überhaupt nicht einreisen und somit auch nicht am ESC teilnehmen. Das hat die ukrainische Regierung nochmal nachdrücklich klar gemacht. Nachdem die EBU darüber mit allen Beteiligten verhandelt hatte, machte sie den Vorschlag, die Sängerin per Videoschalte auftreten zu lassen - was sowohl von der Ukraine als auch von Russland sofort und kategorisch abgelehnt wurde, in letzterem Falle mit der süffisanten Bemerkung, die EBU möge sich doch bitte an ihre eigenen Regeln halten, wonach ein Interpret live aufzutreten und zu singen habe.

Die ganze Geschichte schlug natürlich in sämtlichen einschlägigen Kommentarspalten und in den sozialen Netzwerken hohe Wellen, von der Forderung, der Ukraine die Ausrichtung zu entziehen und beide Länder für die nächsten Jahre vom Wettbewerb auszuschließen bis zu einer Rücktrittsforderung an Jon Ola Sand war alles dabei. Und das alles ist samt und sonders überzogen bzw. völlig fehl am Platz.

Zunächst die Ausschlussforderung. Natürlich wäre es schon extrem verwunderlich, wenn das ganze von russischer Seite keine Absicht gewesen wäre. Ist ja auch ein feiner Schachzug; die Ukraine steht als Depp da, egal was sie macht. Lässt sie Samoylova ins Land, heißt es, die Russen können mit ihr (der Ukraine nämlich) machen, was sie wollen. Tut sie das nicht, ist die Ukraine der hartherzige Buhmann, der der armen gehandicapten Sängerin den Traum vom ESC-Auftritt verwehrt.

Nur: Nachweisen lässt sich das nicht. Nun schützt zwar Unwissenheit per se vor Strafe nicht, aber es wird niemals zweifelsfrei bewiesen werden können, dass Russland die Ukraine hier gezielt provoziert hat. Und so lange das nicht bewiesen ist, wird man Russland auch nicht vom Wettbewerb ausschließen können - vermutlich sogar auch dann nicht, wenn es bewiesen werden sollte.

Die Ukraine wird man ebenfalls nicht ausschließen können, wofür auch? Dafür, dass sie das in ihrem Land geltende Recht durchsetzt? Kritische Stimmen meinten ja, dieses Gesetz sei unmenschlich und gehöre ignoriert, aber das ist sicherlich nicht Sache der EBU (und schon gar nicht der Eurovisionsblase), das zu beurteilen bzw. den Gesetzesübertritt durchzusetzen.

Julia Samoylova hat ein Gesetz in der Ukraine gebrochen, worauf eine gewissen Sanktion steht. Die EBU hat schon gesagt, dass sie von der Ukraine nicht verlangen wird, diesen Gesetzesübertritt ungestraft zu lassen. Dass es seitens der Ukraine ein geschickter Schachzug wäre, trotzdem darauf zu verzichten, Samoylova ins Land zu lassen und somit als moralischer Sieger aus der Angelegenheit hervorzugehen, ist eine andere Geschichte. Das wäre einer der beiden Auswege aus dieser Sache, wird aber wohl nicht passieren, siehe oben.

Die zweite Möglichkeit und der vermutlich einzig gangbare Weg ist, dass die EBU Russland auch zu diesem Zeitpunkt noch gestattet, die Sängerin auszutauschen. Dafür ist aber ein entsprechendes Entgegenkommen der Russen notwendig, und auch das sehe ich noch nicht. Für alles andere sind der EBU im derzeitigen Fall die Hände gebunden.

Natürlich kommen im Moment auch diejenigen Fälle hoch, wo die EBU in der Vergangenheit hart durchgegriffen hat, namentlich Libanon 2005, Georgien 2009 und Rumänien 2016. Schauen wir mal drauf:

Der Libanon durfte 2005 nicht teilnehmen, weil es dort per Gesetz verboten gewesen wäre, den israelischen Beitrag zu übertragen. Laut Regelwerk für den ESC muss aber jeder Beitrag in jedem teilnehmenden Land übertragen werden.

Georgien zog 2009 seinen Beitrag zurück, weil das zu diesem Zeitpunkt in einem Konflikt mit Russland stehende Land seinen Song "we don't wanna put in" nicht austauschen wollte (Pun very intended!), die EBU aber solch einen politischen Beitrag nicht dulden wollte, denn der ESC ist ja, wie wir alle wissen, unpolitisch. Warum dann letztes Jahr 1944 durchgewunken wurde, weiß allein die EBU.

Schließlich Rumänien: Ovidiu Anton wurde letztes Jahr disqualifiziert, da der entsprechende Sender bei der EBU derbe in der Kreide stand.

Warum kann nun die EBU Russland nicht disqualifizieren, wenn sie doch sonst nicht zimperlich ist? Ganz einfach: Die drei oben genannten Fälle hatten alle direkt mit dem ESC bzw. mit der EBU zu tun, so dass die EBU hier auch handeln konnte. Im aktuellen Fall allerdings ist das nicht so, sondern das ganze ist eine Sache zwischen Frau Samoylova bzw. der russischen Delegation und der ukrainischen Regierung. Die EBU tut gut daran, sich hier nicht aktiv einzumischen.

Was kann man nun tun? Ich glaube, für den aktuellen Fall gibt es nur die beiden oben genannten Varianten. Wenn niemand nachgibt, bleibt es spannend, und ich bin sehr gespannt, was bzw. wer oder ob überhaupt irgendwer für Russland im Mai auf der Kiewer Bühne steht. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass die EBU sich endlich mal einen verbindlichen Wertekodex gibt. Heißt: Der völkerverbindende Charakter des Eurovision Song Contest gehört endlich mal ins Regelwerk geschrieben. Jedes Land verpflichtet sich diesem völkerverbindenden Gedanken, der ALLE (!) anderen Teilnehmer mit einschließt. Wer in Konflikt mit einem anderen Eurovisionsteilnehmerland steht und diesen Konflikt auch in den ESC trägt, wird halt künftig vom Wettbewerb ausgeschlossen. Ich denke dabei auch an zwei mir besonders lieb gewordene Kaukasus-Länder, deren Namen ich hier aus Gründen des Taktes nicht nenne.

Aber egal, wie man es dreht, das ganze ist ein trauriges und unwürdiges Schmierentheater. Dass der ESC hier von einigen wenigen dazu missbraucht wird, aktuelle Konflikte mit anderen Mitteln fortzusetzen, ist einfach nur zum Kotzen!

Liebe EBU, der Eurovision Song Contest ist nicht unpolitisch. Das war er nie, und das wird er nie sein. Aber so lange Ihr weiterhin so beinhart an dieser Behauptung festhaltet und Euch von einigen ach so unpolitischen Teilnehmerländern auf der Nase rumtanzen lasst, wird sich nichts zum Besseren ändern. Nehmt endlich das Heft in die Hand, damit der völkerverbindende Geist des ESC nicht immer weiter aufgeweicht wird!