Mittwoch, 15. Mai 2024

Liebe EBU!

Ich bezweifle, dass dieser Brief Euch erreicht - nicht nur, weil dieser Blog ein nur winziges Lichtpünktlein im großen ESC-Kosmos ist, sondern auch, weil Ihr hoffentlich seit der Nacht von Samstag auf Sonntag auf einer Klausurtagung seid und überlegt, wie es jetzt weitergeht. So einen ESC wie diesen habt Ihr, haben wir alle wohl noch nie erlebt, und aus meiner Sicht ist alles dafür zu tun, dass sich ein Jahr wie dieses hier nicht wiederholt. Ihr habt leider mit Eurer völligen Fehleinschätzung der Situation und Eurem unzureichenden Krisenmanagement dazu beigetragen, dass sich die Dinge so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben. Allerdings war mit einigen Eskalationen wirklich nicht zu rechnen, und deshalb habt Ihr wahrscheinlich auch keinen Notfallplan in der Schublade gehabt.

Der ESC 2024 war in vielerlei Hinsichten eine Zäsur, und es ist sicher dringend angezeigt, die eine oder andere Entscheidung mal zu überdenken und sich auch Gedanken darüber zu machen, wie man mit bestimmten Auswüchsen umgeht. Die Welt dreht sich nämlich auch beim ESC immer schneller, und vieles, was sich in der Welt ändert, ändert sich auch 1:1 beim ESC. Eine solche Eskalation hätte dennoch niemals passieren dürfen. Aber sie ist nun passiert, und nun muss man schauen, welche Lehren man daraus zieht.

Zunächst ein paar Gedanken zur Aussage: "Der ESC ist unpolitisch". Das ist er nicht, das war er nie, und man sollte dringend aufhören, dieses Märchen weiterzuspinnen. Der ESC war schon immer hochpolitisch. Kann auch gar nicht anders sein, wenn sich Künstler aus Ländern in ganz Europa zu einem friedlichen Wettstreit treffen. Jeder hat seine Meinung zu Dingen, jeder hat seine Sichtweise zu Dingen. Und wir hatten schon Unmengen politischer Songs im Wettbewerb, nur war es augenscheinlich so, dass hier die "richtige" Politik vertreten wurde. Oder wie hab ich das zu verstehen?

Allerspätestens mit der ersten Teilnahme Aserbaidschans wusste man, dass das Motto "Piep piep piep, wir haben uns alle lieb" nicht mehr gilt. 2008 war es "nur" der Unmut der Aserbaidschaner darüber, dass Armenien besser abgeschnitten hat. 2009 gab es ein paar Leute in Aserbaidschan, die für Armenien angerufen haben. Folge: Besuch von den Behörden. Leider habt Ihr den Aserbaidschanern dafür nur eine Geldstrafe aufgebrummt, die die vermutlich aus der Portokasse zahlen. Seit der Wiedereinführung der Jurys waren Armenien und Aserbaidschan bei der jeweils anderen Jury immer auf dem letzten Platz, und zwar normalerweise bei jedem einzelnen Jurymitglied. Bisher habt Ihr die Augen davor verschlossen, dennoch ist es symptomatisch für eine Entwicklung, die der ESC seitdem nimmt.

 Inzwischen ist es beim ach so unpolitischen ESC so weit gekommen, dass eine junge Künstlerin, die das Pech hat, ein Land zu vertreten, das einem Haufen anderer Leute nicht passt, gnadenlos ausgebuht wird und, schlimmer noch, von einigen ihren Mitstreiter*innen behandelt wird wie eine Aussätzige. Es ist so weit gekommen, dass die Startreihenfolge erkennbar so hinmanipuliert wird, dass Länder, die vielleicht bei der Austragung etwas "schwieriger" sind, möglichst nicht gewinnen. Es ist so weit gekommen, dass ein Land so umstritten ist, dass es keine Chance auf eine faire Bewertung hat und von einer Wertungsgruppe genauso tief runtergewertet wird, wie es im Televoting hochgewertet wird. Das alles wollen wir beim ESC nicht sehen! Habt Ihr Euch überlegt, was man bei einem Gewinn von Israel oder der Ukraine hätte machen wollen? Wenn ein Land teilnimmt, dann muss man sich auch überlegen, was man tut, wenn es gewinnt! Das muss man sich auch dann überlegen, wenn die Lage im Land sich innerhalb einer ESC-Periode ändert!

Es scheint mir auch angezeigt, die Verhaltensregeln nochmal deutlich zu verschärfen. In der immer weiter eskalierenden Lage zwischen dem zweiten Semi und dem Finale hatte ich spätestens am Samstagnachmittag das Gefühl, dass der ESC kurz vor dem Abbruch stand. Nach allem, was wir wissen, habt Ihr zumindest zwischen Donnerstag Nacht und Samstag Abend einige Krisensitzungen gehabt. Gerade heute kam auch wieder die Meldung, dass Euch verschiedene Delegationen um eine Unterredung gebeten haben. Es wäre wichtig, diese Vorfälle aufzuarbeiten (egal, was von wem ausging) und auch klar zu benennen und zu kommunizieren, wer sich wo falsch verhalten hat. Die Gerüchteküche kocht immer weiter, und der Eintopf wird immer giftiger. Es ist höchste Zeit, da mal ein Stopsignal zu senden. 

Was auch wichtig wäre: Wer in irgendeiner Weise in diesen Contest involviert ist, hat sich gefälligst an die Regeln zu halten, egal ob Künstler*in, Delegationsmitglied, Mitarbeiter oder Journalist oder wer, den ich hier vergessen habe. Dazu gehört: Die geltenden Regeln zu achten (und das zur Not nochmal in die Birne gebimst bekommen), sich zu benehmen und vielleicht die eigene Eitelkeit mal zurückzustellen. Wer das nicht kann: Raus! Wir sind doch nicht im Kindergarten - wobei jeder Kindergarten besser mit solchen Krisen umgeht als in der letzten Woche beim ESC damit umgegangen wurde. Versucht doch bitte nicht, alle ESC-internen Konflikte unter den Teppich zu kehren, sondern greift durch, wo es nötig ist, damit sich nicht alles komplett auflädt und es zu einer solchen Eskalation kommt. Die ESC-Welt hat in der letzten Woche viel größere Beschädigungen bekommen, als wenn man die Dinge, die nicht gut gelaufen sind, direkt benannt hätte. Natürlich ist nicht alles eine Meldung wert. Aber wenn wenige Stunden vor Finalbeginn der Eindruck entsteht, das Event stehe auf der Kippe, weil sich so viele Delegationen zurückziehen wollen, dann ist es dringend angezeigt, auch mal Klartext zu reden und nicht so zu tun, als wäre alles Friede, Freude, Köttbullar. 

Das heißt: Gebt Euch klare Regeln für den ESC, auch Verhaltensregeln, und setzt sie durch! Wer zickt, fliegt, und da hat sich auch jeder dran zu halten!

Was ich mir außerdem für 2025 noch wünsche: 

- Weg mit den Backings vom Band! Das wurde 2021 aufgrund der Pandemie eingeführt, jetzt haben wir aber keine mehr. Ein Alleinstellungsmerkmal des ESC war es immer, dass live gesungen wurde. Durch die Backings vom Band haben wir hübsche Tanzperformances, die Schraube geht aber immer weiter weg vom Song.

- Weg mit der Doppelmoral! Isaak darf nicht "shit" singen, aber den nackten Hintern des Finnen muss ich mir angucken? Und nein, die Stringbändel zählen nicht!

- Weg mit der handgeklöppelten Startreihenfolge! Die taugt schon seit Jahren nicht, aber wenn man sie dazu missbraucht, Beiträge aus der Wertung zu schießen, gehört sie wirklich ganz dringend weg. Von oben aufoktroyierte Wettbewerbsverzerrung ist das letzte, was ein Wettbewerb braucht. Wer an einem Wettbewerb teilnehmen darf, muss auch siegen dürfen. Wenn er das nicht darf, darf man ihn nicht zulassen.

- Voten nach dem letzten Beitrag und alle Schnelldurchläufe grundsätzlich in umgekehrter Reihenfolge!

- Big 5 und Gastgeber nicht zwischen den Semi-Beiträgen auftreten lassen - es zerstört den Fluss komplett!

- Andere Gewichtung Juryvotes und Televote! Nachdem zum zweiten Mal der Televotingsieger trotz mehr als 100 Punkten Vorsprung nicht gewonnen hat, sollte man über eine stärkere Gewichtung zugunsten des Televotings nachdenken. 60% Televoting, 40% Jury wäre doch schon mal nett, 70-30 noch besser.

- Den Schweden ein für alle Mal verbieten, ständig den ESC zu verschlimmbessern und zu melloisieren. Da ist bisher noch selten was Gutes dabei rausgekommen. Was funktioniert hat, darf auch funktionierend bleiben, da muss nicht ständig dran rumgeschraubt werden.

Der ESC in seiner idealen Form ist größer als die Summe seiner Teile und als die Egos Einzelner. Ich hoffe, in den nächsten Jahren kommen wir alle wieder zu dem zurück, was diesen Wettbewerb eigentlich ausmacht: United by Music! In einer Form, dass dieser Slogan nicht wieder zu einer zynischen Persiflage verkommt!

In diesem Sinne: Ihr habt viel Arbeit vor Euch - viel Erfolg!

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