(Anmerkung der Schreiberin dieser Zeilen: Eigentlich sollte dieses Posting als letztes in der Nachbetrachtung kommen. Da mir das Thema im Moment aber dermaßen unter den Nägeln brennt, habe ich es vorgezogen. Ich bitte um Verständnis)
Mit der Mischung Heteromann, Schwuler und Heterofrau (und jeweils einem Heteromann und einem schwulen Mann als schweigende Mitschreiber) haben wir möglicherweise eine gewisse Ausnahmestellung unter den Eurovisions-Fanseiten, die naturgemäß in den allermeisten Fällen von schwulen Männern erstellt werden. Auf diesen Seiten und auch überall anders tobt im Moment bekanntlich der Bär, und jeder will den Sieg von Conchita noch höher aufhängen, noch mehr für sich vereinnahmen und als ein noch größeres Zeichen der europäischen Toleranz verstehen als der Vorschreiber. Andererseits ging der Prinzblog, den ich ansonsten außerordentlich schätze, so weit, sich zu fragen, ob der Sieg von Conchita nicht nur der queeren Gemeinschaft zu verdanken ist. Jeder verkündet seine Meinung zu diesem Sieg, und jede Meinung fällt ein wenig anders aus. Deshalb gestattet mir, als heterosexuelle Frau, die eben dadurch nicht mittendrin ist, sondern eher eine Beobachtungsposition innehat, meine 2 Cent zur Debatte beizusteuern, wobei das Thema so komplex ist, dass man eigentlich schon jetzt ein Buch drüber schreiben kann. Und ich kann hier auch nur einen kleinen Teil meiner Gedankenwelt darlegen.
Ich selber halte nix von Toleranz. Jetzt seid Ihr schockiert, was? Aber ich stehe dazu. Bevor Ihr mich jetzt steinigt, lest erstmal weiter. Es wird jetzt möglicherweise ein wenig provokant, aber da müsst Ihr durch.
Toleranz ist für mich, so wie sie derzeit von vielen zelebriert wird, ein fauler Kompromiss. Toleranz, wie ich sie so gemeinhin lese, tragen viele Leute wie einen Bauchladen vor sich her. "Ich bin unheimlich tolerant gegenüber Homosexuellen" heißt übersetzt: "Schaut her, was für ein Gutmensch ich bin. Bin ich nicht toll? Ich bin ja so tolerant!" Wir haben das im Januar erlebt, als Thomas Hitzlsperger sein Coming Out hatte, und derzeit passiert es wieder. "Ich kenn selber auch Schwule" und zeige dadurch, wie wahnsinnig tolerant ich bin. Boah ey! Toleranz schön und gut, aber doch nicht als zelebrierte Nabelschau. Und das, wie ich die Welt WIRKLICH gern hätte, geht deutlich weiter.
Wenn wir schon übers Thema reden, dann hätte ich gern die nächste Stufe, und die heißt AKZEPTANZ. Akzeptanz, dass die Welt bunter ist, als es einige wahrhaben wollen. Dass jeder Mensch das Recht auf freie Selbstentfaltung hat, sei es in sexueller oder sonstiger Hinsicht. Und dass das mir verdammt nochmal egal ist, solange ich mit demjenigen nicht schlafen will. Und: Dass ich diese Akzeptanz genausowenig vor mir hertragen muss, wie ich vor mir hertragen muss, dass ich es akzeptiere, dass es Leute gibt, die eine andere Haar- oder Augenfarbe haben als ich. Dass es für mich schlicht und einfach selbstverständlich ist, dass es Menschen gibt, die nicht in jedem einzelnen Punkt genauso sind wie ich und die genau dadurch die Welt bereichern. So selbstverständlich, dass ich nicht darüber reden muss.
Akzeptanz heißt im nächsten Schritt für mich im übrigen auch, dass ich die Frau mit dem Bart bei der Wertung behandeln darf wie jeden anderen auch, ohne dass ich darüber nachdenken muss, ob mich Punkte für Frau Wurst zu einer besseren Person machen oder nicht. Ich finde Männer in Damenkleidern im Regelfall nicht schön. So what? Ich find auch Männer mit dicken Goldkettchen nicht schön. Oder Frauen, deren Minis so kurz und so eng sind, dass man die Schamhaarfrisur begucken kann. Oder Henna-Tattoos. Und deshalb steht es mir frei, für jemanden, der mich in optischer oder sonstiger Hinsicht nicht überzeugt, nicht anzurufen. Damit behandle ich denjenigen aber letztlich so, wie ich auch jeden anderen behandeln würde. Zum homophoben Arschloch macht mich das deshalb noch lange nicht!
Warum ich trotzdem für Conchita angerufen habe? Weil mich ihre Auftritte sowohl im Finale als auch im Semi völlig überwältigt haben. Weil sie wunderschön aussah und der Bart nicht störte oder seltsam wirkte, sondern einen zusätzlichen Akzent setzte. Weil sie alles andere überstrahlt hat. Ich habe an sehr vielen Stellen das Wort "Würde" im Zusammenhang mit ihrem Auftritt gelesen, und ich finde, das trifft es sehr gut. Weil sie supertoll gesungen hat. Und weil ich der Meinung war, dass die Krone des Abends ihr zustand, niemand anderem. Und es ist toll, dass der ganze Rest von Europa das genauso gesehen hat wie ich. Dass da ein als Frau verkleideter schwuler Mann steht, der alles das verkörpert, was homophobe Leute doof finden, und dass es mich zu einem besseren Menschen macht, wenn ich dafür anrufe, weil ich damit den Homophoben den Stinkefinger zeige, war für mich zwar das kleine Bonbon obendrauf, aber für meinem Anruf nicht ausschlaggebend.
Nun sind wir leider noch längst nicht so weit, dass man von Toleranz oder gar Akzeptanz sprechen kann. Die Debatte über das tolerante Europa geht sicherlich in die richtige Richtung, wird aber im Moment mit einer Hysterie und Nabelschau auf den eigenen Bauch geführt, die mir Angst macht. Einerseits: Selbstbeweihräucherung. Andererseits, gern auch am Stammtisch (und leider wohl auch im weiteren Umfeld von jedem Eurovisionsfan: "Igittibäh! Mann mit Bart in Frauenkleidern. Wi-der-lich!" Der Auftritt, der Sieg, die ganze Figur Conchita Wurst wird im Moment einerseits von allem und jedem instrumentalisiert bis zum Gehtnichtmehr - was unsere und wohl auch andere Medien da gerade abziehen, finde ich sehr bedenklich. Ja, okay, damit man schön mit dem Finger auf irgendwen zeigen kann, berichtet man darüber, dass irgendwelche bekloppten russischen Kerls sich jetzt, bitte anschnallen, als Zeichen ihrer Männlichkeit den Bart abrasieren, und der "Herr" Schirinowski (wusste gar nicht, dass es den noch gibt!) sondert den gleichen Müll ab wie meistens. Aber: Ist eigentlich irgendwem aufgefallen, dass Conchita aus Russland 5 Punkte abgegriffen hat? Sie lag dort im Televoting auf Platz 3! Alles nur aus der Queer-Community? Kann ich mir kaum vorstellen. Andererseits erschüttert mich der Hass, der allgemein über Conchita ausgegossen wird. Geht mal auf die Facebook-Seite von Sido und lest die Kommentare zu dem Posting, wo er sein Juryvotum verteidigt, da wird Euch schlecht. Und solange solche Stimmen noch Gehör finden, sind wir noch lange nicht am Ziel. Und da wiederum ist Conchitas Botschaft klar: Es ist WURST, wie du aussiehst, wer du bist und wen du liebst. Es ist gut, dass du bist, wie du bist.
Noch ein weiterer Punkt, der mir persönlich sehr am Herzen liegt, nämlich die Frage: "Wie sollen wir DAS unseren Kindern erklären?": Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Kinder die Welt mit sehr viel offeneren Augen und Herzen sehen, als das viele Erwachsene wahrhaben wollen und gern hätten. Meine beiden siebenjährigen Töchter haben die Frau mit Bart achselzuckend zur Kenntnis genommen, nachdem ich ihnen erklärt hatte, dass das eigentlich ein Mann ist, der sich als Frau verkleidet hat. Damit war das Thema für sie erledigt. Diese rein rationale Erklärung war für sie völlig ausreichend; bewertet oder gar verurteilt haben sie Conchita nicht. Die Verurteilung kommt NUR durch die Erwachsenen. Deshalb finde ich die Frage "Wie soll ich das meinen Kindern erklären" reichlich seltsam. Wie Kinder später mal die Welt sehen sollen, haben wir Eltern bis zu einem gewissen Grad in der Hand. Wenn wir unsere Kinder zu toleranten oder besser: akzeptierenden Menschen erziehen, werden sie das später aller Wahrscheinlichkeit nach auch sein!
Der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest ist sicherlich ein mutmachendes Zeichen für alle diejenigen, die der Toleranz oder besser noch Akzeptanz bedürfen. Vor allem aber ist es der Sieg einer großartigen Künstlerin, die es geschafft hat, an den Abenden, als es darauf ankam, den ganzen Rest zu überstrahlen. Und dieser Künstlerin wünsche ich für den weiteren Weg nur das allerbeste - hol Dir den Grammy, Conchi! Und weil im Moment auf Deine schmalen Schultern so eine große, große Last gelegt wird, wünsche ich Dir, dass Du davon nicht erdrückt wirst und dass Du Dich auf dem Weg, der da jetzt direkt vor Dir liegt, nicht verlierst. Und dem Thomas Neuwirth wünsche ich, dass seine Welt nicht durch die Welt der Conchita Wurst unter die Räder kommt.
Auf jeden Fall freue ich mich riesig für Österreich! Ihr werdet bestimmt nächstes Jahr einen supertollen Contest ausrichten. Ich komm mir das dann mal vor Ort begucken, wenn es heißt: WILLKOMMEN, WILLKOMMEN IN ÖSTERREICH!
Donnerstag, 15. Mai 2014
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11 Kommentare:
Hut ab. Großartig geschrieben. Der Beitrag sollte auf der Eurovisions-Webseite des NDR sowie den Seiten der OGAE und des EC Germany stehen.
Flippy schließt sich dem komplett an, ganz toll geschrieben!!! Bravo!
Bravo, bravo, bravo, ein toller Kommentar! Vielen Dank liebste Tami, du bringst es echt auf den Punkt! :-)
Liebe Grüße aus Syldavien vom Herzl!
Ich kann mich meinem Namensvetter (und den anderen bisher Kommentierenden) nur anschliessen. Danke, Tami!
Wüste Grüß0e aus der Wüste vom Wü(r)stchen
Sehr gut geschrieben - das triffts auf den Punkt.
Sambs App und Schapoh, meine Liebe!
Was mich bei der russischen Bewertung noch viel mehr erstaunt hat, war, dass selbst die Jury Österreich auf Platz 11 gesehen hat (hätten die so gewertet wie zum Beispiel Armenien oder Aserbaidschan, hätte auch der dritte Platz im Televoting nichts genutzt). Was war denn das? Habt ihr denn die Order des Präsidenten nicht gehört? Wieso habe ich die Befürchtung, dass in den nächsten Tagen ein paar russische Musikprofessionelle in der Newa oder Moskwa treiben werden?
Ansonsten: Ganz meine Meinung. Ich fand "Rise Like a Phoenix" auf Platte oder im Video ganz brauchbar, aber das war eher dem Vergleich mit den letzten Eurovisionssongs von Dragqueens geschuldet, und da war dieser Song eine sehr angenehme Überraschung.
Aber das Gesamtkonzept des Auftritts war schlicht großartig - die Kamerafahrt am Anfang, die Feuerflügel, und dazu eine Sängerin, die auf den Punkt zu liefern imstande war, was beim ESC auch alles andere als selbstverständlich ist (oh, hallo, Molly Smitten-Downs!). Insofern: Chapeau, und danke dafür, dass ich nochmal den Tag erleben darf, an dem sich Österreich und die Niederlande um die ESC-Krone prügeln, während Griechenland und Aserbaidschan im Nirgendwo der Bottom 6 versanden. Um mit Kaiser Franz Josef zu sprechen: Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.
(Fußnote: Ich bin mal gespannt, was Österreich nächstes Jahr liefert. Als sie das letzte Mal Gastgeber waren, durften sie sich mit 2 Punkten den vorletzten Platz teilen.)
Dem ist nichts hinzuzufügen! 12 points!
Siehste woll, Tamerl - jeder versteht es richtig! Genau auffen Punkt !! :)
Ist mir beim 4. Lesen durch den Kopf gegangen: Ich toleriere = Das Macht mir nichts aus. / Ich akzeptiere = es ist völlig egal, ob es mir etwas ausmacht, es ist einfach so! ...
Vielen Dank für Ihre wertvollen Zeilen, werte Tamara Fabian.
Ich denke, man wertet in keinster Weise (!!!) die Toleranzfrage ab, wenn man darauf verweist, dass doch ihr wundervoller Song und ihre brillante Performance die Auslöser ihres überragendes Sieges waren. Schließlich hat Conchita Wurst den Eurovision SONG Contest gewonnen und nicht den Friedensnobelpreis. Jegliche Versuche von den Medien, die Geschichte nur auf die Toleranzfährigkeit Europas zu fokussieren oder gar zu begrenzen, werden ihr als begnadete Sängerin absolut nicht gerecht, deshalb danke ich Ihnen zutiefst für Ihre Klarstellung.
Mit freundlichsten Grüßen,
Ihr Göki Berk
Was auch wichtig ist, ist Respekt. Das respektiert wird, wie andere ihr Leben gestalten. Ein respektvoller Umgang miteinander bedeutet, dass andere nicht beleidigt und erniedrigt werden.
Wichtig ist zudem Anerkennung. Das bedeutet bei Conchita Wurst auch, dass sich die Betrachtung nicht auf den Aspekt der bärtigen Lady konzentriert, sondern dass auch die Qualitäten des wunderbaren Auftrittes - der Gesang, die Bühnengestaltung, das in sich stimmige herausragende Gesamtpaket - gewürdigt werden. Die Anerkennung, dass Conchita Wurst vor allem deshalb gewonnen hat, weil sie die beste Leistung, das beste Gesamtpakt des Finales dargebracht hat!
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