Donnerstag, 23. Mai 2019

ESC-2019-Nachlese - Jurys sind ...?

Jeder ESC hat seine Skandale, das war in diesem Jahr nicht anders. Sei es das Zeigen von Palästina-Schals seitens der Isländer, sei es Madonnas übersichtliche Gesangsleistung (zu beiden Punkten in späteren Postings mehr), die ja tagelang durch alle Medien ging, sei es der Rückzug der Ukraine. Dennoch, der größte Skandal bleibt die Jurywertung, und zwar sowohl in den Semis als auch im Finale.

Sowohl im ersten als auch im zweiten Semi gab es jeweils eine Jurorin, die offensichtlich zu dämlich war, ihr Ranking in der richtigen Reihenfolge abzugeben, und es stattdessen in umgekehrter Reihenfolge abgegeben hat. Im ersten Semi hatte das gravierende Folgen, so zog statt der eigentlich qualifizierten Polinnen Weißrussland ins Finale ein.

Während des Juryfinales kam es beim norwegischen Beitrag mehrfach zu Bildstörungen. Die norwegische Delegation bat darum, den Auftritt wiederholen zu dürfen, was aber nicht erlaubt wurde. Da Norwegen aber sowohl im Finale als auch im zweiten Semi das Televoting gewann, konnte ihnen das nichts anhaben, ein Geschmäckle bleibt dennoch.*

Noch vor dem Finale plauderte der weißrussische Jury-Vorsitzende aus, wie er und seine Kollegen im ersten Semifinale abgestimmt hatten. Das ist aber nach den Statuten der EBU verboten, so dass die weißrussische Jury disqualifiziert und statt dessen für das Finale eine Ersatzwertung vorgenommen wurde. Das sah folgendermaßen aus: Die Wertungen der im gleichen Lostopf bei der Auslosung befindlichen Länder (Aserbaidschan, Armenien, Georgien und Russland, eigentlich wäre auch noch die Ukraine dabei gewesen, aber die hatte ja zurückgezogen) wurden addiert und gemittelt und daraus eine fiktive Wertung gezimmert. So weit, so gut.

Jetzt wird es jedoch pikant: Statt der ersten zehn dieser Wertung bekamen die letzten zehn am Finalabend die Punkte, und zwar in umgekehrter Reihenfolge! Das heißt, Platz 25 der Liste bekam die 12 Punkte, Platz 24 10 usw. Die weißrussische Wertung sorgte am Samstagabend schon für reichlich Befremdung, da die Spitze überhaupt nicht bedacht wurde und fast nur Länder auf der rechten Seite des Scoreboards Punkte erhielten. Insbesondere erhielt Mitfavorit Russland aus Weißrussland keinen einzigen Punkt. Spätestens da hätte die EBU stutzig werden müssen.

Wurde sie aber nicht. Jon Ola Sand verkündete am Samstag wie immer, dass man ein valid result habe.

Die Bubble aber lief heiß. Der portugiesiesche Eurovisionsfan Bruno, nicht faul und nicht dumm, machte sich daran, die tatsächliche Wertung mit dem zu vergleichen, was man aufgrund der Regularien eigentlich erwartet hatte. Und wurde am Sonntagabend auch fündig:

https://twitter.com/euro_bruno/status/1130171806512500738

Die Wiwis berichteten es als erstes, danach drehte es die Runde durch die gesamte Landschaft. Gestern Abend nun reagierte die EBU dann endlich und veröffentlichte ein korrigiertes Resultat, das im wesentlichen folgende Auswirkungen hatte:

- Nordmazedonien gewinnt die Jurywertung (so schade für Tamara, dass man sie um diesen großen Moment gebracht hat!) und wird Siebter, Aserbaidschan wird Achter

- Schweden wird Fünfter, Norwegen Sechster

- Israel wird Juryletzter mit null Punkten (Schwein gehabt, da haben sie wenigstens einen schönen Moment in der Halle gehabt)

- Malta und Zypern rutschen jeweils zwei Plätze nach oben, Slowenien und Frankreich je zwei nach unten

- Albanien und Serbien sowie San Marino und Estland sowie Weißrussland und Deutschland tauschen die Plätze. Die Erstgenannten rutschen jeweils um einen Platz nach oben. Deutschland ist somit Vorletzter.

Glücklicherweise ändert sich am Sieg von Duncan Laurence nichts, die Folgen wären echt heftig gewesen.

Sind sie aber auch so schon. Sowas darf beim besten Willen nicht passieren, und die Frage muss schon gestattet sein, was für Leute man da eigentlich in die Jurys lässt.

Aber auch das Juryvoting selbst stößt mir bitter auf. In vielen Fällen ließen sich die Punkte mal wieder exakt vorhersagen. Waren die Jurys nicht eigentlich wieder installiert worden, um dem Diasporavoting Einhalt zu gebieten und eine "objektive" Meinung zu liefern?

Natürlich kann man über Musik nicht vollkommen objektiv urteilen. Es macht ja auch einen großen Reiz des ESC aus, dass man hier Dinge vergleicht, die eigentlich nicht zu vergleichen sind. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Jurys ihren Aufgaben immer weniger gerecht werden. Als Jurymitglied bin ich dazu verpflichtet (oder sollte es zumindest sein), die Qualität und das Chartpotenzial eines Beitrags über meinen eigenen Geschmack zu stellen. Ja, auch das Chartpotenzial. Der ESC braucht Hits, um überleben zu können.

Das heißt, ich muss zum Beispiel das Potenzial in "Euphoria" sehen und entsprechend bewerten, auch wenn ich den Song selbst vielleicht gar nicht so mag. Ich muss sehen, dass "Era stupendo" (der Beitrag, der mir nach wie vor lieber ist als jeder andere) grottenschlecht auf die Bühne gebracht wurde und gesanglich auch ausbaufähig war, und dann darf ich das eben nicht auf Platz 1 meiner Liste setzen.

In der Vergangenheit ist das bedingt gelungen, so haben die Jurys beispielsweise "Madness of love" anno 2011 völlig verdient gewinnen lassen - ich weiß, die meisten ESC-Fans goutieren das nicht, aber musikalisch spielte das in einer ganz eigenen Liga, und sowas gehört honoriert. Sie haben das Chartpotenzial von "Heroes", "Calm after the storm", "Only Teardrops" und so weiter erkannt und bepunktet. Bei "If I were sorry" war es dann schon grenzwertig, und spätestens letztes Jahr ging es endgültig den Bach runter. Einen Beitrag wie "Non mi avete fatto niente" auf Rang 17 (in Worten: SIEBZEHN) zu setzen wird dem Auftrag der Jurys in keinster Weise gerecht.

Und wenn die Jurymitglieder nur nach eigenem Geschmack werten und obendrein zu doof sind, sich an die Regeln zu halten oder ihr Voting richtig abzugeben - wozu braucht man sie dann noch?

Es gibt also zwei Möglichkeiten:

Entweder werden die Jurys wieder abgeschafft. Ersatzlos gestrichen. Weg. Und damit wir dann nicht wieder die Verhältnisse der Jahre bis 2007 bekommen, wird das Televoting auf einen Anruf pro Anschluss begrenzt. Aus die Maus. Das wird wohl nicht passieren, da den Herrschaften bei der EBU das Geld aus dem Televoting lieb und teuer ist.

Zweite Möglichkeit: Man gibt den Juroren einen Katalog mit an die Hand, anhand dessen sie die Beiträge bewerten. Man könnte dort solche Punkte wie "Qualität der Komposition", "Qualität des Textes", "Anspruch", "Staging", "Stimmliche Leistung" und was weiß ich nicht noch alles abklopfen und auf einer Skala von 1-10 bewerten. Das zählt man dann zusammen und bekommt schlussendlich die Punkte. Und hier sollte auch jemand da sein, der den Juroren auf die Finger schaut und sich auch diese "Einzelnoten" vorlegen lässt!
Falls es das schon gibt: Warum hält sich dann keiner dran? Und warum macht man dann diese Skalierung nicht transparent? Gut, das wird zwei gewisse Kaukasusländer vor Probleme stellen, aber wisst Ihr was: Das ist, wie ich immer so schön sage, ein PAL. PAL? Problem anderer Leute.
Auf jeden Fall wäre so eine granulare Wertung mal einen Versuch wert. Beim Eiskunstlaufen haben sie es nach dem Wertungsskandal in Sotschi ja auch hinbekommen!

Egal, was kommt, so wie im Moment kann es nicht bleiben mit den Jurys. Oder wie seht Ihr das?

*In einer früheren Version dieses Beitrags habe ich geschrieben, dass die Bildstörungen im zweiten Semi waren. Sie waren aber im Finale. Ich bitte, diesen Fehler zu entschuldigen.

4 Kommentare:

Sigi hat gesagt…

Ich verstehe nicht warum das Voting Jury versus Televote geändert werden sollte. Norwegen hatte einen billigen Trash-Song, der bei den 15 Jährigen Zuschauern im benachbarten Skandinavien, den Postsowjetischen Staaten und eventuell noch bei den ESC-Schwubben in der Halle gut ankam. Zurecht ist der Song damit nicht in den Top 5 gelandet. Nord Mazedonien hatte ein Lied, dass im Jahr 1992 von mir aus das Juryvoting gewinnen könnte - aber im Jahr 2019? Ernsthaft? Auch der Jurygewinner ist zurecht nicht in die Top 5 gekommen. Im Gegensatz sind die guten Song alle in den Top 5 vertreten.

Volkisistan hat gesagt…

Wie üblich spricht mir Sigi aus der Seele. Die Juries werden ja im Moment von allen Seiten angegangen, weil sie NOrwegen um den hochverdienten Sieg gebracht haben, aber auch ich finde, dass das Splitvoting das bestmögliche Ergebnis geliefert hat.

Dass die Jurymitglieder besser instruiert werden sollten, auf welche Weise man Punkte vergibt, ist natürlich offensichtlich; solche Patzer gehen gar nicht! Ebensowenig kann es sein, dass sich die EBU offenkundig an politische Votings (AZE, ARM, GEO) gewöhnt hat. Imho sollte da nochmal mit den Verantwortlichen der jeweiligen Staaten gesprochen werden, und wenn sich nix tut, müssen sie eben gehen. Es ist ja in Ordnung, wenn Länder sich unbedingt hassen wollen, aber dann sind sie mE nicht bereit für den ESC...

Aufrechtgehn hat gesagt…

Sowohl die fabulösen Norweger als auch die fantastische Tamara wären deutlich verdientere Sieger/innen gewesen als der blasse Niederländer. Aber that's beside the point. Die berechtigte Kritik an der Jury entzündet sich ja, liest man Frau Fabians fachkundige Betrachtungen tatsächlich durch, nicht am Gesamtsieger, sondern am belarussischen Votingchaos und der offensichtlichen Unfähigkeit einzelner Juror/innen, ihre Punkte in der richtigen Reihenfolge zu verteilen. Was aber von Bedeutung ist, wenn im Zweifel ein Punkt Unterschied drüber entscheidet, ob ein Land am Samstag mitsingen darf oder nicht.

So wie im Moment geht es jedenfalls nicht, da stimme ich zu. Als Jan Ola am Samstag sagte, es läge ein valides Ergebnis vor, hat er uns strenggenommen dreist ins Gesicht gelogen. Es ist eine Blamage für die EBU und für die beteiligten (deutschen) Firmen digame und die andere, deren Namen ich grad nicht weiß, und es erschüttert mein ohnehin fragiles Vertrauen in die Validität des Ergebnisses.

Ich stimme zu: am besten die Jurys wieder weg. Behält man sie, ist das Allermindeste jedoch ein stärkeres Monitoring und ein narrensicheres Punkte-Ermittlungs-System. Die Idee mit der Skalierung finde ich schön. Das Minimum wäre, dass jeder Juror auf seinem Tippbogen nicht nur die Punkte aufschreibt, sondern seinen Lieblingstitel einträgt, so dass nochmal eine Überprüfung erfolgen kann, ob dieser auf 12 bekommen hat und nicht aus Versehen 1.

Tamara Fabian hat gesagt…

Ihr vermischt da zwei Punkte. Sigi und Volker, ich gehe mit Euch mit, wenn Ihr sagt, die Niederlande sind der bessere Sieger. Und das sage ich, obwohl Norwegen in diesem Jahr meinen Liebling schickt, der Beitrag macht einfach supergute Laune. ABER: Der Auftritt im Finale war leider nicht besonders gut, Duncan dagegen hat mich voll erreicht und deshalb auch meine 20 SMSe kassiert. Schon witzig, dass Norwegen trotzdem das Televoting gewonnen hat. Ich bin mit dem niederländischen Sieg supersupersuperhappy und hatte am 19. Mai gegen ein Uhr morgens eine überlaufende WhatsApp-Box mit Nachrichten von Leuten, die das genauso sehen. Und wer diesen Blog aufmerksam liest, müsste eigentlich mitbekommen haben, dass mich Duncans Sieg sehr glücklich gemacht hat und immer noch macht.

Darum geht es bei meinem Beitrag aber gar nicht. Oliver hat das schon sehr richtig da rausgelesen. Die TOP 10 geht so mehr oder weniger in Ordnung (dass Hatari da drin ist, muss ich wohl oder übel ertragen, was willste machen). ABER: Dass Juroren es nicht hinbekommen, ihren Job ordentlich zu machen (und das haben einige dieses Mal sehr augenfällig nicht hinbekommen). Und dadurch verlieren sie ihre Daseinsberechtigung. Denn wenn ein Juror nach den gleichen Kriterien abstimmt wie der Feldwaldwiesenzuschauer, warum brauchen wir ihn dann?

Ich halte die Jurys als Korrektiv durchaus für wichtig, aber dann muss das Korrektiv auch das tun, was man von ihm erwartet, nämlich nach weitgehend objektiven (siehe meinen Beitrag) Kriterien werten. Wie ich mir das vorstelle, hab ich ja dort geschildert.

Wenn man die 12 Punkte bei fast jeder Jury mitsprechen kann, weil die inzwischen auch lustige Diasporawertungen machen, und wenn einzelne Juroren zu blöd sind, ihr Ergebnis richtig abzugeben, was die Polen die Finalteilnahme gekostet hat, dann ist das für mich nicht hinzunehmen.