Mittwoch, 1. November 2017

Zwischen Kiew und Lissabon

Aufmerksamen Lesern und -innen dieses Blogs wird bestimmt aufgefallen sein, dass wir uns bisher um eine Nachlese des Jahres 2017 gedrückt haben. Nachdem nun bereits die erste Interpretin für Lissabon bestimmt ist, werden wir das auch nicht mehr tun. Neues Spiel, neues Glück - einerseits.

Andererseits ist es (zumindest bei mir) aber auch so: Je besser und schöner der Jahrgang, desto größer und stärker ist das Bedürfnis, darüber zu schreiben. Als der ESC vor drei Jahren seine möglicherweise größte Sternstunde erlebte, hat meine Tastatur geglüht. In diesem Jahr schweigt sie. Und dafür gibt es gute Gründe.

Das abgelaufene ESC-Jahr war eins der bittersten und schwärzesten Jahre ever. Damit meine ich nicht den jedes Jahr wieder passierenden Kleinkram wie Votingverzerrungen (hallo portugiesische und bulgarische Jury), den falschen Sieger (only my personal taste), abgestürzte Favoriten (dito), einen NDR, der es einfach nicht lernen will (dazu in späteren Postings mehr), eine einfach nur erbärmlich zu nennende Moderation (da hättste auch drei Holzlatten für hinstellen können!), technische Probleme (haben die Esten nach ihrem Ausscheiden da eigentlich was unternommen?), die ganzen Probleme mit der Organisation im Vorfeld, ... die Liste lässt sich wie immer beliebig fortsetzen.

Dazu kommt für mich persönlich noch das krachende Scheitern des Hörtests. Von der letztendlichen Top 3 hat den nämlich keiner bestanden. Tat meinem Ego gar nicht gut - was soll der innere Besserwisser denn jetzt machen? :-)

Das ist aber alles Killefit. Nichts von wirklicher Bedeutung.

Es gibt aber noch vier weitere Dinge.

1. Die fast völlige Abwesenheit des ESCs in den Charts. In allen Jahren davor gab es immer mindestens einen Song, der sich auch noch längere Zeit in den Charts hielt und der auch hoch genug kletterte, um wahrgenommen zu werden. Das haben wir in 2017 nicht gehabt. Der ESC braucht aber Songs, die den Leuten nachher noch gefallen, um überleben und sich weiterentwickeln zu können. Über diese These lasse ich gern mit mir streiten, aber es ist nun mal meine Meinung. Was passiert, wenn ESC und Charts sich auseinander entwickeln, haben wir in den 80ern und 90ern gesehen. Warum wir den ESC überhaupt brauchen? Siehe 4.

2. Der eine oder andere wird oben in meiner Aufzählung ein Ärgernis vermissen, das nur wenige Sekunden gedauert hat. Die Rede ist natürlich von dem ukrainischen Nichtganzsosehrspaßkeks, der es witzig fand, während Jamalas Auftritt im Finale zu ihr auf die Bühne zu kommen und uns allen den Anblick seines entblößten Allerwertesten zuzumuten. Aus drei Gründen sehr bedenklich: Erstens hatte er eine australische Flagge umgelegt (ausgerechnet Australien! Die Stimmen, was die denn bei der Eurovision zu suchen haben, sind ja nach wie vor nicht verstummt), zweitens passierte das ganze während der Televotingphase (ob es da einen Zusammenhang zu den zwei Televotingpünktchen für Isaiah gibt?). Alles noch nicht wild. Aber dass die Security in der Halle einen solchen Vorfall nicht verhindern konnte, ist katastrophal. Es können auch mal ernstere Bedrohungen in so einer Halle sein als ein Idiot, der die Security dafür aushebelt, seinen nackten Arsch in die Kamera halten zu können!

3. Ein Sieger ist ein Sieger ist ein Sieger. Salvador hat das Ding mit absoluter Rekordpunktzahl geknackt, hat Portugal den ersten Sieg nach 48 Jahren verschafft. Egal, was man von diesem Sieger hält, nach seinem Sieg soll ein Sieger die Welt erobern! Er soll die Menschen auf und neben der Bühne bezaubern! Er soll seinen Traum leben! Er soll singen und sein Ding machen! Ganz bestimmt aber soll er nicht im Krankenhaus liegen und dort inzwischen mit Hilfe eines künstlichen Herzens um sein Leben kämpfen. 

Lieber Salvador, wir wünschen Dir von Herzen alles alles Gute und baldige Genesung!

4. Und dann gab es da ja noch das unwürdige Gezacker zwischen Russland und der Ukraine im Vorfeld. Wer es unbedingt nochmal nachlesen will: Bitteschön. Nicht, dass einem der erbärmliche russische Beitrag, der genau so auch von Ralph Siegel hätte stammen können, jetzt so sonderlich gefehlt hätte. Aber darum geht es nicht. Eine Veranstaltung, die eigentlich dafür ins Leben gerufen wurde, die Menschen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder miteinander zu verbinden, darf nicht als Bühne für zwei miteinander im Krieg stehende Länder missbraucht werden. Wir haben das Gezacker mit zwei gewissen Kaukasusländern alle Jahre wieder, aber das war Kinderfasching gegen das Theater, das uns Russland und die Ukraine in diesem Jahr geboten haben.

Die Russen haben das Ganze provoziert, indem sie mit Julia Samoylova eine Sängerin nominiert haben, von der bekannt war, dass sie nach ukrainischem Gesetz nicht in die Ukraine einreisen darf.

Die Ukraine agierte daraufhin sagenhaft ungeschickt, indem sie nicht über ihren Schatten sprang und die Samoylova trotzdem einreisen ließ - das hätte den Russen den Wind aus den Segeln nehmen können. Und es kann mir keiner erzählen, dass der veranstaltende Sender sich da nicht mit den entsprechenden Ämtern hätte einigen können. So war der Image-Schaden für die Ukraine immens.

Noch ungeschickter war nur die EBU, die sich mal wieder hilflos auf ihr "der ESC ist unpolitisch" zurückzog, anstatt als verantwortliche Institution mal durchzugreifen: Warum wurden die Russen nicht dazu aufgefordert, die Sängerin auszutauschen? Ein entsprechendes Ultimatum hat doch 2009 bei den Georgiern auch gefruchtet (oder eben nicht, weil die genug Standing hatten, von ihrem Plan nicht abzurücken). Warum wurde der Ukraine der alleinige schwarze Peter zugeschanzt (wie man hört, 200 000 EUR Strafe), wenn man vorher nicht mal drüber nachgedacht hat, ihnen die Ausrichtung zu entziehen (okay, dafür war es dann irgendwann wohl auch zu spät)? So oder so, es bleibt ein ganz ungutes Gefühl.

Liebe EBU, ich bleibe dabei und wiederhole mich gern: Der ESC ist EUER Ding. Gebt Euch und den Teilnehmer verbindliche Verhaltensregeln und einen gemeinsamen Wertekodex und greift durch, wenn es nötig ist! So habt Ihr Euch wieder nur als Wirbelsäulenträger erwiesen, mit denen man machen kann, was man will. Erbärmlich.

Nein, ESC 2017, ich möchte Dich so schnell wie möglich vergessen.

Für 2018 wünsche ich mir, dass der ESC wieder das völkerverbindende Event wird, als das er gedacht ist. In einem Europa, dessen Zukunft zumindest im Moment recht düster aussieht, brauchen wir solche Events! 

3 Kommentare:

eurovisionaer hat gesagt…

Vortrefflicher Kommentar.
Unterschreibe ich voll und ganz!

Sixtus hat gesagt…

Frau Fabian hadert noch immer mit dem Schicksal.
Leider zurecht.

Schön geschrieben, liebe Tamara!
Ich liebe das Siegerlied, so gesehen war es einer der besten Jahrgänge ever, aber was im Umfeld ablief entbehrt jeglicher Grundlage.

Möge 2018 besser gelingen und den Frieden wieder einkehren lassen.

Volkisistan hat gesagt…

Sehr schön, zumindest hier etwas zum ESC zu finden, nachdem das Forum ja eher tot scheint...
Auch ich unterschreibe fast alles, beste TaLara, allein vergessen will ich 2017 musikalisch nicht, denn mit Yodel it, Lights and Shadows, Grab the moment und zwei drei anderen sind da einige Songs, die ich auch jetzt noch sehr gern singe. Ilinca und Alex werden für immer einen Platz in meinem Herzen haben, auch wenn das live eher... Ähh... durchwachsen war...

So! 2018 wird alles super, und ich hoffe, hier viel von euch zu lesen!