Dienstag, 4. September 2012

Nachlese ESC 2012, Teil 11

Und nun, nachdem ich alle Auftritte durchgenudelt hab, die Generalmanöverkritik:

Moderation
Nun gut, es war reichlich hölzern und nicht wirklich originell, kein Vergleich zu den herausragenden Moderationen in Oslo oder Düsseldorf. Allerdings auch kein Vergleich zu, sagen wir, den Semis in Moskau. Eldar sah aus wie ein Konfirmand, Leyla wirkte wie ein Teil Annely Peebo und zwei Teile Maria Efrosinina (und ja, das schlimmste aus beiden Teilen!), Nargis war sehr distanziert, professionell, aber nicht besonders sympathisch. Das geht besser. Es geht aber auch viel schlimmer.

Bühne
Es dürfte kein Zufall sein, dass vor allem diejenigen Beiträge vorne gelandet sind, bei denen der Bühnenhintergrund nicht zu sehen war. Mag ja sein, dass dieses asymmetrische Bühnendesign der letzte Schrei ist, aber insbesondere bei der Wertung hab ich mich sehr schwer getan. Die Linienführung war unglaublich anstrengend fürs Auge, und ich konnte das Design visuell nicht aufnehmen. Schwierig auszudrücken, jedenfalls war es in der Regel (FRANKREICH!!) ein großer Nachteil, wenn das Bühnendesign zu sehen war. Einzige Ausnahme: Bosnien-Herzegowina, aber nur, weil da auf dem Bühnenhintergrund kein Muster war.

Postkarten:
Welcome back to the planet of wir-zeigen-was-für-ein-tolles-Land-wir-haben. Mag ja sein, mag auch sein, dass diese Postkarten teilweise sensibel passend zum angekündigten Land ausgesucht wurden. Man denke nur an die unsägliche-Karabach-Postkarte vor dem Heimbeitrag, die, wie inzwischen an verschiedenen Stellen nachzulesen ist, sogar entschärft wurde. Wenn man, wie ich üblicherweise, keinen Audio-Kommentar dabei hat, ist es einfach nur zum GÄÄÄÄÄHNEN langweilig. Ich hatte eigentlich gehofft, dass die Zeiten vorbei wären, aber offensichtlich hab ich mich getäuscht. Die immer wieder neu gezeigten Flammentürme und anderen Neubauten in Baku nervten spätestens nach der fünften Einblendung. Hat die Stadt nix anderes zu bieten? Die Superpostcard am Ende jeder Veranstaltung hätte ich auch nicht gebraucht. Das hat man sich wie so vieles andere auch aus Düsseldorf abgeschaut, dort war es charmant. In Baku wars nur peinlich. Schön war allerdings das Illuminieren der Crystal Hall in den Landesfarben des angekündigten Landes. Ich hoffe, die Schweden sind nächstes Jahr bei den Postkarten etwas innovativer.

Deutscher Kommentar
Ich liebe und verehre urbanfreie Livestreams und DVDs! Immer wenn ich die Übertragung der Finals im Ersten schaue, wird mir diese Tatsache wieder bewusst.

Pausenacts
Im 1. Semi wars Fire of Azerbaijan (von wegen come on baby, light your fire und so), ganz ok, aber ich würde dafür keinen Eintritt zahlen.
Im 2. Semi dann der sensationellste und die-Kopfschüttelfrequenz-höchsttreibende Pausenact EVER. Die letzten fünf Eurovisionssieger brachten nochmal ihre Beiträge, unterstützt von traditionellen aserbaidschanischen Instrumenten, und sie taten das mit völlig unterschiedlichen Schwerpunkten: Dima hatte vorher Kolumbien leergekauft, Marija sah zwar zum Fürchten aus, sang aber den Rest locker an die Wand, Alex war süß wie immer, aber eigentlich ist man ja Violinist, und Lena kam als ihre eigene Gouvernante verkleidet, hatte aber immerhin viel Spaß auf der Bühne. Die Vorjahressieger kamen sicherheitshalber erst zum gemeinsamen Ermorden von "Waterloo". Abba haben wahrscheinlich angesichts dessen, was ihrem Lied da angetan wurde, in den Fernseher gebissen. Eine Sache wurde jedenfalls in diesen Minuten ein für alle Mal klargestellt: Man muss nicht singen können, um bei der Eurovision zu gewinnen! Elle und Nikkei versuchten sich mit dünnen Stimmchen an der ersten Strophe, wobei sie noch nicht mal in der Lage war, sich die paar Textbrocken zu merken. Dima war da eh längst in anderen Sphären, Alex beschränkte sich aufs Fiedeln, Lena hatte zwar besagtermaßen Spaß, aber war mal wieder eher eine singende Schauspielerin. Die einzige, bei der man verstehen konnte, warum sie die Chose mal gewonnen hatte, war erwähntermaßen Marija. UN-FASS-BAR, das ganze. Man hätte das aber noch krönen können, wenn man statt der letzten fünf Eurovisionssieger die letzten SECHS eingeladen hätte...
Der Finalpausenact musste ja was ganz besonderes sein, wenn man dafür die letzten fünf Eurovisionssieger ins zweite Semi verbannt hatte. Es war Verwandtschaft vom Präsidenten, na, die kann man ja dann auch mal ein bisschen herausheben. Und es wurde ja auch viel Brimborium drumherum aufgefahren. Wie beschreibe ich jetzt den Auftritt mit zartfühlenden Worten? Nun, stellen wir uns vor, es ist WM-Finale, und die Heimmannschaft kriegt beim Stand von 0:0 in der 90. Minute einen Elfmeter zugesprochen. Das Publikum tobt, steht auf den Stühlen, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Der Superstar der Mannschaft tritt an, Riesenanlauf, das Stadion explodiert und..... er trifft den Ball nicht richtig, der Ball kullert mit ca. 0,2 Stundenkilometern am Tor vorbei. So ungefähr kam mir der so gigantisch angepriesene Finalpausenact vor.

Umschläge und Punktevergabe
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Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass das mit der Random Order, in der die Finalisten aufgerufen werden, absoluter Mumpitz ist, so wurde er spätestens im 2. Semi erbracht, als ausgerechnet die Türkei im letzten Umschlag, dem extra auf die Bühne gebrachten "Golden Ticket", steckte. Wenn das Zufall war, bin ich Ralph Siegel. Random Order, my arse.
Kaum besondere Peinlichkeiten bei der Punktevergabe dieses Mal dabei, zumal die neue Regelung, dass die Hosts offensichtlich während der Punktevergabe die Klappe zu halten haben, jede Spontaneität im Keim erstickte. Drei der Spokespersons muss man aber herausheben: Erstens Sarah Dawn Finer aus Schweden, die mit ihrer völlig überdrehten Ansage ("Azer... Ascher.... Bakuuuuuuuuu!") die übertriebene Begeisterung, die die Spokespersons üblicherweise an den Tag legen, trefflich karikierte, zweitens Mr. Lordi, bei dem mich nicht nur das Rascheln seines Kostüms fasziniert hat, sondern auch die ständig wechselnden Hintergründe mit finnischen Landschaften (eine großartige Antwort auf die selbstbeweihräuchernden Postkarten vor den Auftritten), und schließlich natürlich Anke. Man kann ihr Statement peinlich finden, aber die meisten fanden es großartig - und zu denen zähl ich mich auch. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sie sich mit ihrem Schlusssatz "Europe is watching you" nicht getäuscht hat, denn der ESC-Zirkus ist ja nun weitergezogen und Aserbaidschan nicht mehr im Fokus. Ansonsten schreib ich demnächst ans slowenische Fernsehen; ich möchte unbedingst Peter Poles wiederhaben!

Ergebnis und Sieger
Die Finalisten gingen im wesentlichen in Ordnung. Dass sich mir der Siegerbeitrag bis zum heutigen Tage nicht erschlossen hat, schrieb ich ja bereits. Andererseits ist bis auf Island alles, was ich im Vorfeld mit 9 oder 10 von 10 bewertet hab, in der Top Ten gelandet, was schon mal sehr erfreulich ist. Noch erfreulicher ist, dass der Sieger, so wenig ich ihn mag, in Europa so abräumt. Das kann der Veranstaltung nur guttun - wann war denn mal ein nicht-deutscher ESC-Sieger Nummer 1 in Deutschland?! Und nicht nur den Sieger hört man regelmäßig, auch Romans Beitrag kommt immer wieder im Radio. Und wenn schon das langweilige "Would you?" aus Stuttgarter Boutiquen ertönt und ich auch sonst im Moment neuerdings immer wieder alte und neue ESC-Mucke an Stellen höre, wo ich gar nicht damit rechne (neulich erst wieder "My Impossible Dream" im Einkaufsradio im Kaufland), dann heißt das für mich, dass der ESC sich im Moment in die richtige Richtung bewegt!
Eins noch zu Loreen: So wenig ich ihren Song mag, so sympathisch und angenehm empfand ich sie in der Sieger-PK. Da hat sie bei mir jede Menge Punkte gut gemacht!

Gastgeber und Veranstaltung in ihrer Ansichichkeit
Dass es schwierig werden würde, war klar, es war nur noch nicht klar WIE schwierig. In einem solchen Land einen Contest auszutragen, der völlig frei von Politik ist, war von vornherein zum Scheitern verurteilt und hat ja letztlich auch nicht geklappt. Die Einstellung der EBU "Hauptsache wir haben einen schönen Contest, alles andere ist doch uns egal", die ja traurigerweise auch von vielen Fans geteilt wird, stinkt zum Himmel! Vielleicht wärs ganz gut, wenn sich die Mannen und Madln um Jon Ola Sand mal VORHER überlegen, was alles passieren kann, wenn ein als möglicher Gastgeber derart umstrittenes Land gewinnt, und wie man damit besser umgeht. Es ist klar, dass es schwierig ist, eine Grenze zu ziehen im Sinne von "Aserbaidschan darf das ausrichten, Weißrussland aber nicht", aber so zu tun, als sei das Leben ein Ponyhof und alles andere ginge einen nichts an, ist sicher auch nicht die richtige Lösung. Die EBU hat sich bei allem, was passiert ist, mal wieder als der Haufen rückgratloser Wirbelsäulenträger gezeigt, der sie nun mal ist. Und  obwohl ich keine Freundin von Was-wäre-wenn-Spielchen bin, muss ich dieses Mal doch die Frage stellen, was wohl gewesen wäre, wäre Armenien dabei gewesen? Wäre die Sicherheit der armenischen Delegation wirklich garantiert worden? Die Nachrichten, die gerade in den letzten Tagen so hochkommen, lassen das Gegenteil befürchten. Und was hätten die Wirbellosen aus der EBU dann gemacht?
Ich will hier nicht mehr weiter ins Detail gehen, es ist ja auf den verschiedenen Eurovisions- und auch anderen Seiten zur Genüge über all die Geschehnisse berichtet und diskutiert worden. Aber offen gesagt, ich bin gottfroh, dass es rum ist. Ich starte hiermit die Initiative "Vote for Belarus!" Und dann bin ich mal SEHR gespannt, wie sich die Weicheier, die im Wissen, dass Weißrussland in den nächsten 2000 Jahren nicht gewinnen wird, diesbezüglich große Töne spucken, aus der Affäre ziehen. Thomas Schreiber z.B. sagte, dass Deutschland bei einem ESC in Weißrussland aus politischen Gründen nicht dabei sein würde. It sucks. Da messen wir dann nicht nur mit zweierlei Maß, sondern wir geben indirekt auch zu, dass das ganze eben doch politisch ist. Ein wenig mehr Konsequenz an dieser Stelle würde nicht schaden, aber so lange Herz und Rückgrat der EBU in der Geldbörse sitzen, wird das wohl nix. Deshalb haben wir jetzt alle schön zwei Wochen unseren Spaß gehabt, ziehen weiter, und was das ganze für den größten Teil der aserbaidschanischen Bevölkerung bedeutet oder eben nicht bedeutet, geht uns doch am Arsch vorbei. Es bleibt zumindest bei mir ein ganz schlechtes Gefühl.
Als Schlusswort bleibt mir nur zu sagen: Liebe Azeris, Ihr könnt von mir aus in den nächsten 100 Jahren so viele Top-Ten-Platzierungen einfahren wie ihr wollt. Nur bitte bitte gewinnt um Gottes Willen nicht wieder!

So, liebe Kinder, das wars von mir für dieses Jahr. Wir lesen uns wieder im nächsten Jahr im März - spätestens!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Absolute Übereinstimmung bei der Kommentierung der Pausenacts ! Danke!